In letzter Minute

In letzter Minute

Mohammeds* Familie kommt nach fast 6 Jahren Trennung in Deutschland an.

Eine kurze Geschichte über einen langen Zeitraum von Hoffnung und verschiedenen Leben einer Familie.
Uns kommt es merkwürdig vor, unsere kleinen Kinder auch nur eine Woche bei den Großeltern zu wissen. Oder 2 Wochen in einem Feriencamp an der Ostsee. Mohammed hat seine Kinder fast 6 Jahre nicht gesehen. Er wusste sie nie in Sicherheit, er wusste, er kann nicht für sie da sein, er kann sie nicht beschützen in dem Lager in Beirut und er kann nicht dabei sein, wenn sie wesentliche Entwicklungsschritte gehen. Mohammed gelang die Flucht nach Deutschland, aber der Nachzug seiner Familie dauerte fast sechs Jahre. Nun sind seine Frau und die Kinder endlich in Düsseldorf gelandet.

Die Geschichte von Mohammed* und seiner Familie
Mohammed muss 2012 mit seiner Familie aufgrund von Repressalien des syrischen Regimes aus Damaskus in den Libanon fliehen. Nach einem Besuch seiner kranken Mutter in Syrien 2014 ist die Grenze des Libanon geschlossen und er kann nicht zurück zu seiner Frau und seinen drei Kindern. Er beschließt nach Europa zu fliehen und seine Familie nachzuholen. Nach seiner Flucht über die Türkei und das Mittelmeer erreicht er im Oktober 2014 schließlich Deutschland und wird von der Erstaufnahmeeinrichtung Gießen in eine Gemeinschaftsunterkunft in Neustadt verlegt. Dort findet er Kontakt zur Asylbegleitung Mittelhessen. Wir begleiten ihn während des Dublin-Verfahrens, in dem er nach Italien abgeschoben werden soll. Allerdings zieht sich das Verfahren sehr in die Länge, er muss zweieinhalb Jahre auf seine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) warten, danach noch einmal 4 Monate auf die Entscheidung. In dieser Zeit begleiten wir ihn in der Kommunikation mit Behörden, Ärzten, Rechtsanwalt etc. und besuchen ihn immer wieder. Mithilfe eines Rechtsanwaltes wird das Verfahren schließlich durch die Anerkennung als Asylbewerber in Deutschland beendet.

Seine Familie überlebt im Lager für palästinensische Flüchtlinge in Beirut durch die Unterstützung des UNHCR und später auch mithilfe von privaten Spenden, organisiert von unserem Verein. Im Dezember 2017 begleiten wir ihn zur Anhörung in seinem Asylverfahren nach Gießen. Nach einer Nachfrage im Februar 2018, wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei, wird er im März 2018 zu einer erneuten erkennungsdienstlichen Behandlung nach Dreieich geladen. Als wir dort ankommen, heißt es, das sei ein Versehen gewesen … Schließlich kommt im März 2018 die Entscheidung des BAMF: kein Flüchtlingsstatus sondern nur subsidiärer Schutz und somit kein Anrecht auf Familiennachzug. Eine Klage dagegen wird eingereicht, mit der Aussicht, weitere eineinhalb Jahre später vor Gericht entschieden zu werden.

Mithilfe der Diakonie wird im April 2018 ein Antrag auf Familiennachzug gestellt und ein Termin bei der deutschen Botschaft angefragt. Dafür braucht es Pässe für alle 4 Personen, ausgestellt in Damaskus für 1200 $, vorfinanziert über private Spenden. Auf einen Antrag auf Ausnahme von der Passpflicht und Erteilung eines „Reiseausweises für staatenlose Palästinenser aus Syrien“ reagiert das BAMF nicht. Die Familie stellt Kontakt zur IOM (Internationale Organisation für Migration) in Beirut her, die bei der Vorbereitung der nötigen Papiere hilft und ihn im Dezember 2019 informiert, dass der Botschafts-Termin bevorsteht. Dieser findet Anfang Januar 2020 statt – die Ausländerbehörde des Landkreises fordert derweil von Mohammed Nachweise über Sprachkurse, Integrationsleistungen und einen Mietvertrag. Glücklicherweise findet er mithilfe eines Sozialarbeiters der Ausländerbehörde eine ausreichend große Wohnung in Neustadt und bekommt auch die notwendige Zustimmung des KJC für die Familienzusammenführung. Damit ist der Weg frei für die Visumerteilung, die dann bereits am 10. März 2020 erfolgt. Zwei Tage später buchen wir Flüge mit der Middle East-Airline für den 18. März. In der Zwischenzeit wird die Corona-Epidemie zur Pandemie erklärt und am Wochenende zeichnet sich ab, dass internationale Flüge nach Deutschland möglicherweise nicht mehr abgefertigt werden könnten. Am Sonntag, den 15.03. informiert die Middle-East-Airline ihre Fluggäste per SMS, dass der Flug storniert wird. Es gelingt uns am gleichen Tag, bei einer anderen Airline Flüge für Montag den 16.03. nach Düsseldorf zu buchen (allerdings zum doppelten Preis). Am Montagmittag fahren wir mit Mohammed nach Düsseldorf zum Flughafen. Es ist einer der letzten Flüge, die noch Menschen von außerhalb Europas nach Deutschland bringen und Mohammeds Familie ist tatsächlich an Bord. Die Familienzusammenführung gelingt nach 5 1/2 Jahren buchstäblich im allerletzten Moment: nur einen Tag später sind die Grenzen Europas bis auf weiteres geschlossen.

Mohammed * wurde in dem Verfahren von Alexandra und Michel begleitet.

* Name geändert